Hannes Priesch
HOLODECK. Meisterzeichnungen aus zwei Jahrtausenden
Die Zeichnung – Grundvoraussetzung aller bildkünstlerischen Tätigkeiten – fristet heute vielfach ein Schattendasein. Durch die auch in der Kunstpraxis voranschreitende Digitalisierung verzichtet man zusehends auf analoge Skizzen und Entwürfe; als eigenständige Gattung tritt die Zeichnung heute vielfach in den Hintergrund. Für diejenigen jedoch, die sich dieser altehrwürdigen Kunstform nach wie vor bedienen, gilt die absolute Freiheit. Die Zeichnung darf wuchern, sie darf die Grenzen von Trägermaterialien sprengen, sich in alle Richtungen auswachsen und entwickeln – sich also ebenso facettenreich und selbstbewusst präsentieren wie ihre „große Schwester“, die Malerei.
Die Freiheit, die sich mit und in der Zeichnung entfaltet, spürt man auch im Werk von Hannes Priesch. „Zeichnen ist einfach – singen.“ Diesen Satz hat der Künstler an den Anfang des Katalogs Silbernes Hämmerchen gestellt, der 1989 im Zuge einer Ausstellung im Stadtmuseum Graz entstanden ist. Diese einfache Beschreibung bringt seinen Zugang zum Medium der Zeichnung kurz und knapp auf den Punkt.
Priesch hat im Laufe der Jahre viele Ausdrucksformen seiner Kunst erprobt und gefunden. Es führt in die Irre, ihn als „Maler“ zu bezeichnen (was er selbst übrigens nie tun würden), auch wenn sich das meiste in seinem Werk bis hin zur Auseinandersetzung mit dem Thema Raum aus der Malerei heraus entwickelt hat. Vieles, das nun für seine Malerei gilt, lässt sich auch auf die Papierarbeiten anwenden, allerdings bewegt sich Priesch im Medium der Zeichnung freier, instinktiver als in der Malerei. So bricht er etwa in der Zeichnung mit der Hierarchie von Motiven, trifft keine Entscheidung, was trivial, wichtig oder unwichtig ist. In einer reflexiven Art zu Zeichnen, lässt sich Hannes Priesch leiten von dem, was in seinem Kopf passiert. Das bedeutet keineswegs, dass er konzeptlos vorgeht. Viele Zeichnungen sind in Serien ausgeführt und folgen einer klaren inhaltlichen Linie. Andere teilen sich scheinbar nur das Format – so beispielsweise die in den letzten Monaten entstandenen quadratischen Arbeiten (gerahmt im Format 30,3 x 30,3 cm), von denen eine Auswahl im Hauptraum der Galerie zu sehen ist. Formal beweisen die Zeichnungen eine enorme Wandlungsfähigkeit und entfalten sich im Spannungsfeld figurativer und abstrahierter Darstellung. Manches ist augenscheinlich flüchtig entstanden, rasch mit Zuhilfenahme eines einzigen Stiftes ausgeführt, andere Blätter sind durch mehrfaches Überarbeiten so dicht ausgefüllt, als hätte Priesch gegen einen Horror vacui „angekritzelt“. Zwischendurch trifft man auch auf Naturstudien, meist Blumen; die mache er, um zu enttäuschen, behauptet Priesch. Fragmentarisch sind auf den Blättern zum Teil Texte oder Buchstaben erkennbar, sie vagabundieren herum, geben eventuell Hinweise auf die Bildinhalte oder verbleiben in einer rätselhaften Zeichenhaftigkeit, die sich allein durch den Laut des jeweiligen Buchstaben erklärt. Das Verhältnis zwischen Bild- und Textebene entzieht sich vielfach der Nachvollziehbarkeit. Text, Sprache und Semantik – wichtige Eckpfeiler in den Werken von Hannes Priesch – sind aber nicht die einzigen Stimmen, die in den Arbeiten zu Wort kommen. Auch bildsprachliche Referenzen auf philosophische Fragestellungen schimmern hie und da durch, beispielsweise das Gleichnis der blinden Männer, die einen Elefanten betasten und – je nachdem, ob sie einen Stoßzahn, den Rüssel, Schwanz oder Ohr des Tieres inspizieren – unterschiedliche Erkenntnisse über das Wesen des Tieres gewinnen. „Ein Elefant nimmt drei Hände wahr“ ist auf einer von gleich mehreren Zeichnungen zu lesen, in denen Priesch die Botschaft dieses Gleichnisses weiterdenkt: Ist Realität eine Frage der Perspektive? Oder umgekehrt, orientiert sich die Realität an den Begreifenden?
„Die Wahrheit ist hässlich: Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen“, schrieb Friedrich Nietzsche 1888. Er definierte somit Kunst als eine dem ästhetischen Schein verpflichtete und der Wahrheit widersprechende Konstante, die dem Menschen nicht zur bloßen Wertsteigerung des Lebens, sondern gar zum Überleben dient. Anders gesagt: „Das Letzte, was wir brauchen, ist ein kaputtes Holodeck.“ Dieses Zitat stammt übrigens von Commander Chakotay, Erster Offizier der U.S.S. Voyager, womit die Überleitung zu dem Begriff getan ist, den Hannes Priesch als Haupttitel für seine Ausstellung bei artepari gewählt hat. Das Holodeck – um diesen Terminus für Star Trek-Unkundige (laut Hannes Priesch eine lässliche Bildungslücke) zu erläutern – bezeichnet einen bestimmten Bereich des Raumschiffs und zuvorderst das damit verknüpfte Programm, welches beliebige Orte und Situationen realitätsgetreu zu erzeugen vermag. Priesch nutzt diese Metapher des veränderbaren Raums, um auf eine Praxis hinzuweisen, die seiner Auseinandersetzung mit der Malerei und dem damit verbundenen Überschreiten von Grenzen geschuldet ist und sein gesamtes künstlerisches Schaffen bestimmt; so stehen seine Arbeiten in Ausstellungen nie für sich alleine, sondern sind stets in einem (mal mehr, mal weniger) theatralisch aufgeladenen Raum inszeniert – durchaus vergleichbar mit einem Bühnenbild, das hier und da als minimale Intervention auftaucht (wie beispielsweise in seiner ersten (offiziellen) Einzelausstellung, die 1980 in der Galerie nächst St. Stephan stattfand und in der Priesch Malerei in Form von Streifen, Fetzen, Fahnen und eingerollt als „Stäbe“ in einem Raum präsentierte, dessen Boden mit Sand und Staub versehen war) und dann wieder pompös ausfällt (bei Trigon 81 etwa wurde – unter Mitwirkung von Peter Rumpf und Brigitte Pokornik – ein ganzer Raum der Neuen Galerie als eine Art Hommage an Hieronymus Bosch zu einer gigantischen Erdbeere). Doch wie augenscheinlich oder reduziert das „Bühnenbild“ auch ausfällt, Prieschs Bestreben ist es, die Besucher_innen mit einem Raum zu konfrontieren, der sie aus dem Alltag hinausführt. Der Ausstellungsraum wird zum performativen Raum, die Betrachtung der Werke zum unfreiwilligen performativen Akt. Hannes Priesch beschreibt diesen Vorgang als das Induzieren einer „performativen Energie“, als eine Intensivierung der Kunstbetrachtung, die eine spezielle Lesbarkeit der Arbeiten ermöglicht. Seine Zeichnungen aber sind auch Möglichkeitsräume per se. Sie lassen den Betrachtenden die Wahl, entweder (um auf Nietzsche zurückzukommen) der hässlichen Wahrheit zu entfliehen oder sie in ihnen zu erkennen. Gerade weil sich in den Zeichnungen nur Fragmente oder Spuren des Realen finden, alles nur angeschnitten und zitiert erscheint, ist man gezwungen, nachzufragen, zu decodieren oder – um mit dem Künstler zu sprechen – sie als „Projektionsfläche des Bewussten und Unbewussten, des Wortes und des Wortlosen“ wahrzunehmen und ihre Rätselhaftigkeit zu akzeptieren.
In der Wandarbeit Just For You, 1999 für den Stiegenaufgang der Neuen Galerie entstanden, waren 111 s/w Tuschezeichnungen sowie eine orangerote Neonzeichnung installiert, auf denen in formal unterschiedlichen Varianten der titelgebende Slogan geschrieben stand.
An diese Arbeit lässt eine neue Serie denken, bestehend aus sieben quadratischen Zeichnungen, die Priesch auf Plattencover aufkaschiert hat. Jede dieser sieben Arbeiten ist eine Kombination aus Typografie und Bild, wobei der Laut SCH jeweils den Ausgangspunkt der Zeichnung bildet. Den starken Begriffen, die sich in dem SCH-Assoziationsnetz verfangen haben, fehlt es nicht an Pathos: Schande, Scheiße, Scham, Schmerz, Schuld, Scherz, Schmutz. Gleichzeitig sind es Worte, die möglicherweise als Namen von Popbands durchgehen, eine Assoziation, die durch das Format des Schallplattencovers und von Hannes Priesch klein eingefügten, kuriosen Zusatz-Informationen („½ Song“, „5.5 Songs“ usw.) forciert wird. Wie bei Just For You bleibt das Gefühl, sich mit einem Code auseinanderzusetzen. In der beinahe dadaistisch anmutenden Verwendung des Lautes SCH (erinnern wir uns: „Zeichnen ist einfach – singen“) zeigt sich aber auch einmal mehr ein Aspekt, der als markantes Merkmal von Prieschs Arbeiten gilt, nämlich das Augenzwinkern.
Ebenfalls nicht ganz ohne Witz verfährt der Künstler in seiner ebenfalls neu entstandenen Serie fiktiver Ausstellungsplakate („Möglichkeitsplakate“, so Priesch), die im Stiegenaufgang der Galerie zu sehen sind: So präsentiert die Albertina modern das Porno-Grafische Werk – Highlights aus dem Nachlass von Hannes Priesch für eine angemessene Ausstellungsdauer von 6. Jänner 2054 bis 7. April 2056; das Belvedere 21 hat bereits in näherer Zukunft, nämlich 2028 unter dem Titel Zeitreisen – Schnelle Augenbewegungen die von Priesch mitbegründete Künstler_innengruppe REM im Programm; anlässlich des 30. Jahrestages des Hurricanes Katrina im Jahr 2035 wird Eyewall von Hannes Priesch im Whitney Museum of American Art zu sehen sein, eine Arbeit, die sich um einen politisch brisanten Emailverkehr rund um die Katastrophe dreht; und – last but not least – das MoMA PS1 stellt Hannes Priesch die Arbeiten von Mike Kelley unter dem Aspekt Catholic Taste gegenüber (ein Titel, der übrigens einem Katalog Kelleys entliehen ist). Unter diesen Ankündigungen für zukünftige Ausstellungen verbirgt sich aber auch ein Poster aus der Vergangenheit, das Prieschs bereits erwähntes Projekt Just For You 1999 in der Neuen Galerie bewirbt. Das damals nicht gemachte Ausstellungsplakat ist hiermit nachgereicht.
Schlussendlich zum Titel Meisterzeichnungen aus zwei Jahrtausenden, den Hannes Priesch vielleicht leicht großspurig für diese Ausstellung gewählt hat und der (um den Künstler erneut zu zitieren) „gegen das Mittelmaß und die falsche Bescheidenheit“ wirkt, denn diese würden „den Fortschritt in der Gesellschaft und im Individuum“ behindern. Der retrospektive Blick, den der Titel nahelegt, ist irreführend, denn tatsächlich sind die meisten der hier gezeigten Grafiken neueren Datums, viele davon sogar erst in diesem Jahr entstanden oder zumindest überarbeitet worden. Um das Versprechen der „zwei Jahrtausende“ einzulösen aber, liegt eine Auswahl an frühen Zeichnungen in kleinen Vitrinen, die Priesch in den Maßen 11 x 22 x 44 cm (die Zahl 11 übrigens strapaziert Priesch als wiederkehrendes Element häufig in seinen Arbeiten) bauen ließ. Sie sind das Resultat des sich immerfort drehenden Karussells aus Gedanken und Ideen, die tröpfchenweise auf dem Papier destillieren. Und vielfach auch Impulsgeber für Arbeiten größeren Formats sind, für Bilderserien, installative Werke. Vieles wurde aus dem Geiste einer kleinen Zeichnung geboren. Das gilt nicht nur für Hannes Priesch und seine Kunst, lässt sich aber anhand seiner Entwurfsskizzen für die Ausstellung In God We Trust 1999 in der Galerie Schafschetzy belegen. Ein anderes, der „performativen Energie“ geschuldetes Detail aus dieser Ausstellung ist übrigens ein Outfit, das der Künstler für die Galerierepräsentantin entworfen hatte. Auch dieses Element zitiert Hannes Priesch am Holodeck bei artepari – im Bewusstsein, dass Inszenierung als Schöpfung des Künstlers selbst dann emotionale (Kunst-)Erfahrungen zu steigern vermag, wenn sie nicht offensichtlich ist.
„Un/controlled“ ist der Titel einer Serie von Papierarbeiten, die Priesch Anfang der 1990er-Jahre in Chicago begonnen hat und die er bis heute als noch nicht abgeschlossen erachtet. Dieses Wortspiel, in dem sich reaktives und beherrschtes Handeln verbünden, charakterisiert treffend den Spagat, den der Künstler in seinen Zeichnungen so sicher vollführt. Intellekt und Emotion stehen sich bei Hannes Priesch nicht als Gegensatzpaar gegenüber, sondern kämpfen Seite an Seite – mit oder ohne Boxhandschuhe – gegen hässliche Wahrheiten.
Katia Huemer, Kuratorin, Kunsthaus Graz, September 2020