Wir alle müssen Opfer bringen
Mira Fliescher

Wenn Hannes Priesch schreibt, im Zentrum seines Interesses stehe die Sprache, dann bewegen ihn Wendungen wie: „Wir alle müssen Opfer bringen“. Solche Floskeln werden von ihm zitiert, in einen anderen Kontext gestellt, im Schriftbild verändert und so verfremdet, dass sich die Materialität von Grund und Schrift aufdrängt. Sätze, Worte und Buchstaben beginnen, unheimlich zu irritieren, so dass sich zunehmend eine hintergründige Verflechtung von Sprache, Präsentation und Politik aufdrängt, in der eine Geschichtlichkeit sichtbar wird, die Worte verdeckt mit sich schleppt, um sie in neuem Gewand auferstehen zu lassen. Was Hannes Priesch in der Ausstellung „Wir alle müssen Opfer bringen“ betreibt, lässt sich als eine ästhetische Archäologie der symbolischen Formation von Gemeinschaft, Heimat und Glauben beschreiben, die ihn vielfach zur Auseinandersetzung mit der nächsten Umgebung führt. Der 1954 in Volkersdorf bei Eggersdorf in der Steiermark geborene Künstler, der bei Max Weiler an der Akademie der bildenden Künste in Wien studierte, in den 1980er Jahren zur Wilden Malerei gezählt wurde, die Künstlergruppe REM mitgründete und nun in Semriach bei Graz und in New York lebt und arbeitet, kann hierbei verschiedene Bereiche in den Blick nehmen und sie verbinden, ohne inkonsequent zu werden. Befragte Priesch in den späten1970er Jahren reflexiv die Bedingungen der Malerei, indem er die Dinghaftigkeit von Farbe und Träger in ihren Materialitäten gegen das tradierte, gerahmte und plan gespannte Tafelbild erfahrbar machte, so thematisiert er nun mit der Sprache Tradition, Konvention und Gemeinschaftskonstitution mit Bezug auf ihre Medialität und Materialität.
Die Einordnung Prieschs in eine ästhetische Archäologie meint aber weniger die Ausgrabung althergekommener linearer Entwicklungen, Herkünfte und Verbindungen. Der Historiker und Philosoph Michel Foucault hatte innerhalb seiner Diskursanalyse eine Archäologie vorgeschlagen, die, anstatt Kontinuitäten aufzusuchen, die in der Geschichte liegenden Diskontinuitäten, Brüche, Schwellen und Grenzen sowie die Weisen der Verteilung, der Streuung und der Übergänge im Wissen betrachtet. Dieser Archäologie geht es nicht um die Leugnung von Kontinuität, sondern darum, die jeweils einzelne spezifische Logik von Ereignissen in Bezug auf ihre je singulären Bedingungen und Verbindungen zu untersuchen. Wenn sich in dieser Untersuchung etwas wiederholt, dann ist dies gerade in der Hinsicht bemerkenswert, dass hier etwas ähnlich (d.h. gerade nicht identisch) wieder auftaucht – eine irritierende Stabilität oder ein anachronistischer Wiedergänger, der neue und einzelne Effekte mit sich bringt und der unter bestimmten Bedingungen es vermag, Vorheriges in neues Licht zu tauchen. Hannes Prieschs Interesse an der Sprache ließe sich als eine archäologische Arbeit der diskontinuierlichen Wiederholung fassen, die auch mit Jacques Derridas Konzeption der Zitathaftigkeit der Sprache in Verbindung zu bringen wäre, zumal es beiden Denkern um die Möglichkeit anderer Sprach-Handlungsweisen geht. Doch die Theoretiker Foucault und Derrida schätzen die höchst spezifischen Brüche und Unterschiede, die Kunst auf ihre ganz eigene Weise schafft, insbesondere da sie die Kunst als einen Ort der alternativen und reflexiven Artikulation schätzten. Insofern ist es weder Foucault noch Derrida geschweige denn der Kunst bzw. dem Ästhetischen gegenüber angemessen, die eine Archäologie auf die andere einfach abzubilden. Vielmehr ist nach den spezifisch ästhetischen Verfahren der Kunst Hannes Prieschs zu fragen, denen es mit der Sprache nicht allein um Worte geht.
Verfahrensweisen
So ist das im Kontext einer Wirtschaftskrise geäußerte und als politischer Sparappell berühmt gewordene und weiter zitierte „Wir alle müssen Opfer bringen“ auf unregelmäßig aufgehängte, unterschiedlich farbige Decken aufgesprüht; eben auf solche Decken, in die man sich an kalten Abenden zu kuscheln weiß oder wie sie als ‚Sicherheitsdecken‘ im Kofferraum gut gerüsteter Autos liegen (‚Für alle Fälle…‘). Das „Muss“ ist in vier Sprachen und in vier Schriftbilder übersetzt, die, da wir sie nicht unbedingt alle zu lesen vermögen, trotz des Wissens um den Inhalt auch ornamental aufgefasst werden können. Die Schriftbilder sind in ihrer Einheitlichkeit gestört. Sie weisen keineswegs den sachlichen Gestus der Typographie einer Zeitung auf (wo man vielleicht meint, diesen Slogan finden zu können oder sogar bereits gelesen zu haben). Unmöglich wird es, die Floskel unbedacht zu überlesen: Wer ist das Wir, das hier Opfer bringen soll? Und „Was“ oder „Wer“ ist zu opfern? Beide Fragen zielen auf die Konstitution des Innen und Außen von Gemeinschaften, während das Wort „Opfer“ die Verflechtung von politisch-nationaler Gemeinschaft und Religion aufruft: „For God and Country/Für Gott und Vaterland“ sterben Soldaten. Diese Wendung versieht eine der dekonstruierten, aus alten Kleidern und Strickarbeiten zusammengesetzten „Fahnen“ Prieschs unter eben diesen Titel mit einem Piraten-Logo, dem ein Käppi aus der gepolsterten Hartschale eines Büstenhalters aufsitzt.
Priesch verwendet Decken in bunt-kitschigem, ‚plüschigem‘ Design, denen wir alle schon einmal begegnet sind, oder umfunktionierte ‚Altkleider‘, die noch gerade zu erkennen sind, um zugleich als Flagge, Skulptur, Fetzen und als Reminiszenz an unbekannte Träger und Trägerinnen zu fungieren. Nicht allein dem Wechsel ins Intime oder Häusliche ist verdankt, dass sich Heimliches und Un-Heimliches als höchst verschränkt ausweisen. Es ist viel eher eine materielle Irritation – das Weiche, das Improvisierte, die Farbigkeit, das Alte, Abgenutzte, Gebrauchte und eine merkwürdige Sinnlichkeit – die Brisanz erzeugen. Floskeln wachsen an, sie schleichen sich als unhinterfragte Selbstverständlichkeiten ein, weisen dabei eine problematische Persistenz oder ein Nachleben auf, das alltäglich berührt. Prieschs Arbeiten reflektieren so diejenigen unheimlichen Verbindungen und Verflechtungen, die sich in Gebräuchen jeweils neu aktualisieren können, indem Kontrast und Verfremdung sprachliche Selbstverständlichkeiten im Ästhetisch-Materiellen brechen; und sie unterlaufen selbstverständliche Kontinuitäten, indem ein ästhetisch-materielles Verfahren der Zusammenstellung oder der Konstellation neu arrangiert, auf welche Weisen Zeichen, Sprache oder Ausdrücke auf einer materiellen und medialen Basis (wie Farbe, Visualität, Klang) beruhen.
Während Priesch so mit Malerei, Video, Installation und Performance den fließenden Übergängen und rhetorischen Mustern zwischen dem Politischen und dem Religiösen nachgeht, stellt er auch neue, aber diskontinuierliche Verbindungen nebeneinander: Das „Opfer“, das (wer auch immer wir sind) ‚wir alle‘ bringen müssen, findet einen Widerpart in den „Opferseelen“, die eine der „Fahnen“ lanciert, während die Serie „Durst nach Opferseelen“ die Quelle dieses merkwürdigen Ausdrucks auf und mit Papier bearbeitet: Franz Xaver Haslers Text „Ein Ruf nach Opferseelen“ erschien 1931 in der „Sendbote“. Priesch ‚malt‘ von diesem Fund, der mit dem merkwürdigen Ausdruck der „Opferseele“ das irdische Leiden zum notwendigen Teil des Heils umwertet, Zitate vergrößert auf unterschiedliche, höchst edle Papiere ab; er verdreht das Schwarz auf Weiß des Buchdrucks ins Negative, eine zufällige Reaktion fügt hierbei einigen Arbeiten eine rosa oder blassrote Tönung hinzu und wird konsequent als Teil des Prozesses belassen. In ähnlichem Umgang mit Gefundenem setzt Priesch einen originalen „Brief vom Bezirkshauptmann“ aus dem Jahr 1948, in dem sich die Muster religiöser und nationaler Parolen bruchlos in die neu angesagte Aufbau- und Konsumrhetorik der Nachkriegsjahre fügen, auf edles, handgeschöpftes Papier (hier jedoch im Original). Jeweils mischen sich Quelle, Zitat und Farbsemantik mit einer unheimlichen materiellen Ästhetisierung, die den Impetus der Rhetoriken zugleich mit einem Schleier belegt wie ästhetisiert.
Das Interesse an der Formation des ‚Wir‘ bestimmt die Video-Studien Prieschs, die sich fast wie ethnografische Studien den marschierenden und versammelten Körpern, Abzeichen und Trachten der Aufzüge und Treffen von Musikkapellen und Verbänden wie dem ÖKB widmen. Letztlich Teil des Alltags des Lebens auf dem Dorf, lassen sie an Siegfried Kracauers Kritik am „Ornament der Masse“ denken, die er in Musikfilmen Hollywoods (in den sich abstrakten Ornamenten formierenden Körpern) ebenso wie in Nazi-Architektur am Werke sah. Prieschs mikroanalytische Kameraarbeit kratzt an der „mit rechter Haltung und guten Ton“ angestrebten Regelmäßigkeit, indem ganz genau hingeschaut wird. Dabei wird die Ornamentbildung immer wieder zoomend unterlaufen, sodass Regelmäßigkeiten in unregelmäßige Einzelheiten zerfasern. Oder die Kamera sieht an der einen oder anderen Stelle vom Wesentlichen dieser Veranstaltungen im Wortsinne ab, um den Blick auf Details der Uniformen, Insektenattacken und Schuhspitzen zu richten.
Ver-Wenden
Aufs Spiel gesetzt sind hiermit nicht nur Semantiken und Diskurse des „Wir“. Vielmehr wird die Politik der Verflechtung von ästhetischen und symbolischen Formationen explizit auf allen Ebenen ästhetisch und materiell dadurch analysiert, dass sie beobachtet, aufgenommen und nebeneinander durchgespielt wird, um sie im Wortsinne zu ver-wenden, d.h. um in einem speziellen Gebrauch ‚umzugebrauchen‘ oder ‚umzubiegen‘. Priesch nutzt hierzu Fundstücke und dies meint Redewendungen ebenso wie Stücke aus dem persönlichen Kontext. In seinen Konstellationen entfesselt Priesch so die Gegenwart der Geschichte ebenso wie die Geschichte der Gegenwart gleichermaßen mit Grauen wie mit einem klugen Witz: ohne zu verurteilen und ohne zu verharmlosen aber auch ohne sich als unbeteiligten Beobachter zu geben. Hannes Priesch spart sich nicht aus: Bereitwillig legte er sich als erstes Opfer und gutes Beispiel in der Performance zur Ausstellungseröffnung aufs Krankenbett.
Die Arbeiten Prieschs (er)fordern dabei, dass die Betrachter selbst einen Ort und eine Haltung finden. Denn seine Zusammenstellungen sind zwar offen, aber keine bloßen Sammelsurien; selbst wenn das Improvisierte dies nahelegen könnte. Die Betrachtung ist durch eine offene, jedoch keineswegs für alles offene Urteilstruktur selbst in die Verantwortung genommen, z.B. indem sie aufgefordert ist, sich als handelnder Teil selbst gewahr zu werden. Die Tisch-Installation „Salvation A/Heils A“, ein scheinbarer Verkaufstisch eines Wohltätigkeitsverkaufs voller Dinge aus dem Nachlass der Mutter, die zugleich als Relikte spezifisch sind wie sie klischeehaft sind (ein Kanister mit Wasser aus Lourdes, ein derangierter Wackeldackel, Handarbeiten, Votivbüchlein) wird begleitet durch eine Performance und erfordert darin den Austausch mit der ‚Dame vom Verkauf‘, während man sich Stück für Stück mit den feilgebotenen Dingen beschäftigt. Den „Titel auf Anfrage“ für zwei Gemälde anzugeben, ist kein schlechter Titelwitz, sondern erzwingt ein Nachdenken über das eigene Interesse an und die eigene Involvierung in Gemälde, die Szenen in pastelligen Tönen, unter einem ‚Geheimtitel‘ in gleichsam einklänglicher Heimatfilmstimmung zeigen und sich dabei in ihrem Inhalt erst auf den zweiten Blick und ‚Anfrage‘ offenbaren.